Gitarrist für alle Tonarten: Der Italo-Berliner Carlo
Marchione
Die Geschichte ist kurz und trug sich jüngst in einem Hotel in
Kuba zu. Eine heitere Runde von Musikern hatte sich gefunden,
darunter der renommierte Gitarrist David Russell, der meinte: "Hier
gibt es einen Mann, der alle Stücke in allen Tonarten spielen kann."
"Unmöglich!" warfen die anderen ein. So forderte man den
italienischen Gitarristen Carlo Marchione auf, die Ouvertüre zur
Oper "Carmen" von Georges Bizet in G-Dur zu spielen. Er tat's - und
dann noch einmal: diesmal in D-Dur.
Marchione, 1964 in Rom geboren, gilt in Fachkreisen als einer der
begabtesten Gitarristen der jüngeren Generation. Seit vier Jahren
lebt der einstige Schüler von Mario Gangi an der Seite seiner
holländischen Frau, die ebenfalls Gitarristin ist, in Berlin. Über
fehlende Auftrittsmöglichkeiten kann Carlo Marchione derzeit nicht
klagen: In den letzten vier Monaten hat er 28 Konzerte gegeben. "Nun
wäre doch einmal an Urlaub zu denken", meint Marchione - "natürlich
nicht ohne Gitarrenkoffer."
Warum lebt er in Berlin? "Hier habe ich die Hoffnungauf ein
besseres Leben. Nicht in ökonomischer Hinsicht, weil mir in Italien
ein Platz als Lehrer an einer Hochschule sicher gewesen wäre. In
Deutschland aber spielt die Kultur, mehr als in meiner Heimat und
anderswo in Europa, eine bedeutende Rolle." Das florierende
Kulturleben in Deutschland hat allerdings auch eine Kehrseite. Das
Publikum ist, gerade in Berlin, ausgesprochen wählerisch. Die
Konzertgitarre gehört momentan nicht zu den Favoriten unter den
Instrumenten. Selbst namhaften Musikern wie Pedro Soler, Pepe Romero
und Eliot Fisk fällt es schwer, die Säle zu füllen.
"Natürlich", merkt Marchione dazu an, "weht hier ein rauher
Wind." Die Gitarre dümpele, nimmt man das Publikumsecho als
Meßlatte, derzeit vor sich hin wie ein Schiff in der Flaute. Schuld
hätten die Gitarristen aber auch selbst, die häufig nur die Kollegen
Isaac Albeniz, Enrique Granados und Joaquin Rodrigo kennen:
"noioso", einfach langweilig.
Das Repertoire des altehrwürdigen Andrés Segovia ist - "bei allem
Respekt" - seine Sache nicht. Marchione befindet sich immer auf der
Suche nach neuen Stücken, stellt Programme aus Bekanntem und weniger
Bekanntem zusammen. So auch am Mittwoch um 20.30 Uhr im Kulturhaus
Mitte, Rosenthaler Str. 51: Neben Ohrwürmern von Dionisio Aguado und
Agustin Barrios Mangoré spielt er Etüden seines Lehres Mario Gangi
und die dreisätzige "Sonata" von Leo Brouwer.
(Ronald Schäfer, 16 Dezember 1997)